Mein ganzes Erwachsenenleben wollte ich verstehen, wie die Psyche funktioniert, warum wir so sind, wie wir sind und warum wir in Situationen so reagieren, wie wir das tun. Fast drei Jahrzehnte lang war das wie ein Sammeln von Puzzlestücken, die kein klares Bild ergeben haben - bis vor ein paar Jahren. Da haben sich in mir auf einmal viele Dinge zu einem klaren Bild verbunden.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, ich muss mir das alles sofort aufschreiben, bevor es mir wieder entgleitet. Damit ich es dann wenigstens wieder nachlesen kann. Also habe ich nach einer Form gesucht, in der das gut geht. Einzelne Textdokumente oder eine Datenbank schienen mir zu kompliziert, um Themen leicht wiederzufinden. Also habe ich ausprobiert, meine Notizen als Blog zu schreiben. Anfangs einfach, um Übersicht zu bekommen und auf einfache Weise für mich nach Themen suchen zu können.
Ein halbes Jahr lang habe ich dann fast täglich etwas in das Blog geschrieben, was für mich eine komplett neue Erfahrung war, weil ich in meinem Leben nie viel geschrieben habe. Dann war so viel zusammengekommen, dass ich das Blog öffentlich gemacht habe.
Seitdem ist das Blog für mich so eine Art Begleiter, Freund und Lehrer geworden.
Ich lerne beim Schreiben
Ich mache mir im Alltag immer wieder Notizen für Themen. Diese Notizen bestehen in der Regel aus 3 oder 4 Wörtern. Wenn ich dann einen Beitrag schreiben möchte, schaue ich auf die Liste und wähle eines der Themen aus.
Dabei habe ich immer wieder das Gefühl, dann eigentlich gar nicht zu wissen, was ich dazu schreiben kann und was daran eigentlich interessant ist.
Und dann passiert etwas, was mich bis heute fasziniert. Im Schreiben lerne ich sozusagen von mir selbst. Während ich schreibe, tauchen wie von allein Zusammenhänge, Gedanken und Gefühle in mir auf, die mir nicht bewusst waren. Es passiert etwas im Prozess des Schreibens, dass mein tieferes Wissen sichtbar macht.
Wenn ich das, was ich geschrieben habe, wieder lese, lerne ich jedes Mal etwas, was mir davor nicht bewusst war. Ich lerne sozusagen von mir selbst. Ab da, wo ich es geschrieben habe, passiert dann noch mal etwas Spannendes. Das vorher unbewusste Wissen ist danach bewusstes Wissen, das mir in meinem Alltag zur Verfügung steht.
So löst das Schreiben des Blogs einen konstanten Wachstums- und Lernprozess aus.
Eintauchen in das tiefere Wissen
Der Prozess des Schreibens verbindet mich also mit einer tieferen Wahrnehmung und bringt Erkenntnis. Den gleichen Effekt kenne ich auch bei anderen Dingen.
Wenn ich in der Beratung mit meinen Klienten an die Flipchart gehe, habe ich in der Regel keine Ahnung, was ich dort aufschreiben oder aufzeichnen werde. Ich habe einfach das Gefühl, das ist jetzt dran. In dem Moment, in dem ich den Stift ansetze, wird etwas wie von allein klar und es entstehen wie aus dem Nichts oft ganze strukturierte Vorgänge. Auch da braucht es für mich dieses "aus meinem Kopf raus kommen". Dieses nach außen bringen von Informationen, damit mein tieferes Wissen sich zeigen kann.
Der englische Philosoph Alan Watts hat ein schönes Zitat hinterlassen: "You have to get out of your head at least once a day to come to your senses."
"Mindestens ein Mal am Tag müssen wir raus aus unserem Kopf, um zu unseren Sinnen zu kommen."
Im Kopf verlieren wir uns leicht, es entsteht nicht so leicht eine Ordnung. Sobald die Gedanken eine äußere Form bekommen, strukturiert sich etwas. Ich kann etwas von außen anschauen, was ich sonst nur von innen erlebe.
Diese Form der Selbstbegegnung gibt es auch bei anderen Dingen.
Auch Reden schafft Klarheit und Ordnung
Mit jemandem zu reden, um sich einer Sache klar zu werden ist für mich eine weitere Form, in der ich dieses Lernen von mir selbst kenne. Dieses überrascht sein, was ich sage, wie es klingt und was mir dadurch bewusst wird. Es ist manchmal so, dass ich das Gefühl habe, dass ich mir bewusst beim Reden zuhöre, weil ich neugierig bin, was ich sagen werde.
Bin ich in diesem Zustand, bin ich im gleichen Erleben wie beim Blog schreiben oder an der Flipchart. In einer Verbindung mit einer tieferen Wahrnehmung, die ich rein durch Denken nicht erreichen kann.
Eine andere Perspektive einladen
Alles, was ich externalisieren kann, gibt mir letztlich die Möglichkeit einen mir bekannten Inhalt aus einer anderen Perspektive anzuschauen und dadurch Erkenntnis zu gewinnen. Ich trete sozusagen aus mir heraus und kann mir einen inneren Vorgang im Außen anschauen. Dadurch bekomme ich automatisch einen guten Abstand und kann mich selbst reflektieren.
Auch durch Zeichnungen kann mir etwas über mich selbst und meine Gefühle klar werden. Durch Aufstellungen, die ich mit meinen Klienten in der Beratung mache, kann ich mein Leben und meine Beziehungsstrukturen von außen sehen und fühlen.
Selbsterkenntnis
Ohne dass ich das geplant habe, hat mich das Schreiben dieses Blogbeitrags zu einer Erkenntnis geführt, die ich am Beginn des Schreibens nicht eingeplant hatte. Nämlich zu der Erkenntnis, dass wir uns nur selbst erkennen können, wenn wir die Möglichkeit finden, uns auf die eine oder andere Art und Weise wie von außen zu betrachten.
Das nehme am an Ende dieses Blogbeitrags für mich mit. Und da es mir das bewusster geworden ist, kann ich diese Erkenntnis für mich und für meine Klienten wieder ein Stück bewusster anwenden.
Eine Sammlung von Erkenntnissen
Darüber hinaus ist mein Blog für mich eine Sammlung von Erkenntnissen über das Leben und Beziehungen, inklusive der ganzen Podcasts, Vorträge, Bücher und Zitate, die mich prägen und mich berühren. So wird das ganze Blog für mich ein Raum der Selbstbegegnung, so eine Art Heimat, die ich gleichzeitig mit anderen teile.
Ich freue mich, wenn das, was für mich hilfreich ist, um das Leben zu verstehen, auch Bedeutung für andere Menschen bekommen kann und Orientierung gibt. Das mache ich deswegen gerne, weil ich so lange Orientierung gesucht habe, sie aber nicht gefunden habe.
Übung:
Was sind die Beschäftigungen und Tätigkeiten, in denen es dir gelingt, wie von außen auf dein eigenes Leben zu schauen und zu Erkenntnis zu kommen?
Wenn sie dir bewusst sind, kannst du sie auch bewusst anwählen, wenn du für dich in einer Lebenssituation Klarheit gewinnen möchtest?