Leben am Limit, in den Tag rein stopfen, was geht - immer mit dem Ziel, ausruhen zu können, wenn alles erledigt ist, das entspricht in meiner Wahrnehmung heute der Normalität. Doch Normalität bedeutet nicht unbedingt, dass das, was wir da tun, gut und gesund für uns ist. Normalität heißt auf der Ebene, dass wir bei etablierten gesellschaftlichen Gewohnheiten nicht mehr darüber nachdenken, ob sie uns eigentlich dienen.
In der Geschwindigkeit und Komplexität des heutigen Lebens passiert es schnell, dass wir überall sind, nur nicht bei uns. Und leben am Limit - Leben an der Grenze des Schaffbaren beinhaltet für mich auch immer die Angst, das alles nicht mehr halten zu können. Dass es zu viel wird.

Kurz vor dem Sommer und den Ferien wird mir das auch dieses Jahr wieder bewusst. Die Geschwindigkeit, in der wir laufen, die Menge an Dingen, die uns beschäftigen und die Tendenz, diese ungesunde Routine als normal anzusehen, führt dazu, dass wir alle wie selbstverständlich am Limit leben. Die Regeneration, das Erholen, das zu mir kommen, bleibt dann oft auf der Strecke. Die Räume, in denen wir Ruhe finden und nur für uns sind, werden in unserem Leben - auch kulturell - immer weniger werden. Es gibt immer noch eine Information, eine Werbung, einen Konsum, eine nicht erledigte Aufgabe, die mich im Außen hält.
Aufgrund dieser Vielfalt von Dingen, die nach unserer Aufmerksamkeit buhlen, ist die Welt lauter geworden. Denn das Laute wird bewusster wahrgenommen. Starke Emotionen sind schneller und stärker zu spüren.
Doch das Leise, die Stille, wie es mir geht, das "Da-Sein", die Erdung, die Langsamkeit, die sind alle leise. Wenn ich mir für sie nicht die Zeit nehme und mich bewusst mit ihnen verbinde, verschwinden sie aus meinem Leben.
Das Schnelle und das Laute läßt das Spüren aus
Das Schnelle und das Laute erlauben nicht, dass ich "mich" spüre, dass ich die Resonanz in mir wahrnehme, die die Dinge bei mir auslösen. Denn bevor ich mich spüre, verliere ich mich schon wieder im nächsten äußeren Reiz. Das Schnelle erlaubt nicht, dass ich in einen Seinszustand komme, in dem ich zufrieden bin - so wie es gerade ist. Das Schnelle und das Laute bieten starke Reizen - stark gewürztes Essen, Filme voller Action oder die Darstellung von optimierten Leben, mit wunderschönen Menschen an traumhaften Locations, die genau wissen, wie man reich wird, natürlich ohne zu arbeiten..... Das Laute und das Schnelle emotionalisieren stark und polarisieren auch stark. Und so verlieren wir als Gesellschaft und auch an Einzelne unsere Mitte.
Wir bekommen nicht mehr die Chance, uns an uns selbst auszurichten und uns in der Tiefe mit etwas auseinanderzusetzen.
Und so bin ich schnell überall, nur mich bei mir selbst. Ich bekomme mich selbst nicht mehr mit.
Leben am Limit heißt auch, dass ich oft "über" meine Grenze gehe und nicht aufhöre, Dinge zu tun, die mir zu viel sind. Bin ich mal in diesem Kreislauf, kompensiere ich den damit verbundenen Selbstverlust wieder mit Belohnungen und Ablenkungen, die mir einen möglichst großen Kick geben, damit ich überhaupt etwas spüre.
Zu mir zu kommen, nichts zu konsumieren wird dann langweilig, wirkt wie leer. Dieses Empfinden kommt aus der Desensibilisierung des Lauten und Schnellen. Es kommt daher, dass es immer schwieriger wird, "tatsächlich" zur Ruhe zu kommen.
Leben unter dem Limit
Ich versuche mein Leben so auszurichten, dass ich es nicht mehr zu 100% fülle, sondern nur noch zu 80%.
Damit Zeit bleibt.
Zeit wofür? Für das Ungeplante. Für das, womit ich diese Zeit dann spontan aus mir heraus füllen möchte und für die Selbstbegegnung. Für die Möglichkeit, mein Leben zu reflektieren und nachzuspüren, was in mir lebendig ist - ohne jede äußere Ablenkung.
Wenn mein Leben nur zu 80% gefüllt ist, dann werden die restlichen 20% oft durch Dinge gefüllt werden, die das Leben aussucht. Aber wenn es so ist, dann bin ich auf 100% und nicht auf 120. Dann bin ich nicht über meinem Limit, über meiner Grenze.
Doch auch in einem Leben, in dem ich weiß, ich muss 100% geben, um meinen Tag zu schaffen, kommt das Ungeplante dazu. Und genau da komme ich dann ganz schnell in eine Überforderung. Denn ich bin dann über dem Limit. In der Überforderung beschleunigt sich der ganze Kreislauf des mich nicht mehr Spürens.
In der Überforderung werde ich noch mehr der Sklave aller Dinge, die jetzt gerade wichtig sind. Dann verliere ich noch mehr meine Mitte und Lebendigkeit und die Reize, die ich dann brauche, um mich zu spüren, werden noch lauter.
Das ist aus meiner Sicht der Preis des Lebens am Limit, an das wir uns als ganze Gesellschaft so gewöhnt haben.
Außenorientierung und Innenorientierung
Je mehr ich am Limit lebe und das Leben so viel von mir will, je mehr ich im Tun und im Konsumieren bin, umso weniger komme ich zu mir und zu meinen wahren Bedürfnissen. Denn die kann ich nicht mehr wahrnehmen. Ich bin dann ständig in einer Außenorientierung, statt in einer Innenorientierung.
Urlaub ist so eine Zeit, in der man nach einer Woche runterfahren mal wieder bei sich selbst ankommt. Dann hat man vielleicht eine Woche, die man gut bei sich ist und in der dritten Woche ist man mit den Gedanken und Gefühlen oft schon wieder bei dem, was einen in der Arbeit erwartet, wenn man zurückkommt.
Für mich wird die Frage immer interessanter, wie ich diese Qualität des bei mir seins als Teil meines ganz alltäglichen Lebens leben kann. Wie kann ich auch im Alltag immer wieder Zeiten finden, in denen ich nichts muss, in denen ich ziellos einfach sein kann, abseits von allem lauten, schnellen und aufgeregten in der Welt.
Es führt mich letztlich zu der Frage, was wesentlich ist in meinem Leben. Für mich ist es, dass ich mich spüre, dass ich Zeit für Beziehungen zu Menschen und Themen habe, die mich berühren und inspirieren. Wenn dafür kein Platz ist, existiere ich zwar, aber ich lebe nicht.
Meine Verantwortung für mich liegt also darin, täglich auf mich zu achten. Routinen in meinem Leben zu installieren, die Selbstbegegnung "selbst"verständlich machen. Platz für Langsamkeit und Stille zu finden, für Regeneration und Erholung.
Auf welches Erreichen von äußeren Zielen kann ich verzichten, um mehr anzukommen - bei mir - in meinem Leben? Es ist nicht so, dass mir diese Ziele unwichtig sind. Es ist vielmehr so, dass ich mir auch wichtig sein möchte. Dass ich auch in dem, was ich im Außen mache, mit Freude und lebendig teilnehmen kann. Denn dann wird aus meiner Sicht alles zu einer sinnvollen Einheit.
Dort, wo mir der Ausgleich gelingt, mache ich die Erfahrung, dass das, was ich im Außen tue, mit Leichtigkeit geschieht und ich mit weniger Energie oft viel mehr erreiche, als wenn ich mich verloren habe und erschöpft meine To Do Liste abarbeite.
Übung:
Weniger ist mehr - diese Erkenntnis begegnet jedem von uns immer wieder. Weniger im Außen ist mehr für mich selbst.
Was kannst du in deinem Leben im Außen reduzieren, um in ein Lebensgefühl zu kommen, in dem du nicht nur laufen musst, sondern auch gehen und sogar mal stehen bleiben kannst?
Um innezuhalten.
Um die Qualität zu entdecken, die im Langsamen und im Stillen liegt, in der ich meinen eigenen inneren Kompass wieder wahrnehme und in ein Leben komme, das ich nach meinen eigenen inneren Werten ausrichten kann.