Wirklichkeit ist ein Begriff, der nicht so leicht zu fassen ist. Im chinesischen gibt es "die" Wirklichkeit genauso wenig wie "die" Wahrheit. Es gibt nur Wirklichkeiten und Wahrheiten.
Dieser Eintrag bezieht sich daher auf einen ganz bestimmten Wirklichkeitsbegriff - darauf was faktuell passiert ist, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können. Wenn ein Haus abgebrannt ist, kein Geld mehr auf dem Konto ist, ein Mensch auf die Welt gekommen ist, oder ein anderer stirbt - all das sind faktische Wirklichkeiten.
Ein Ziel der Achtsamkeit ist mit dem "was ist" in Einklang zu kommen. Und das ist für uns oft schwierig.
Oft wollen wir die Wirklichkeit anders als sie ist
Es gibt die altertümlichen Begriffe Schicksal und Demut. Man ergibt sich seinem Schicksal, nimmt in Demut etwas an.
Die beiden Begriffe kommen aus einer Zeit, in der der Glaube an die Machbarkeit von allem noch nicht so ausgeprägt war wie heute. Aus einer Zeit, wo man sich höheren Mächten noch ergeben- und sich dem was nicht änderbar war, gefügt hat.
Wie leicht es uns fällt, die Wirklichkeit anzuerkennen hängt viel damit zusammen, was wir als unveränderbar erleben, und was nicht.
Zorn entsteht laut dem persischen Mystiker Rumi dort, wo wir das was wir nicht ändern können nicht akzeptieren. Hass, wenn wir nicht akzeptieren können, dass eine andere Person ist wie sie ist. Zorn, Hass, Neid, Angst,... all diese Gefühle entstehen dort, wo unser Bild der Wirklichkeit nicht mit dem in Einklang mit der Wirklichkeit wie wir sie gerne hätten.
Die Wirklichkeit bleibt immer die Wirklichkeit. Sie ist unverrückbar und unveränderlich. Die Demut ist die Anerkennung, dass wir uns nicht über etwas erheben können, dass wir nicht ändern können.
Die Wirklichkeit begegnet uns im Großen wie im Kleinen jeden Tag. Ich habe mein Parkticket in der Tiefgarage verloren. Mein Partner hat einen Seitensprung begangen, ich habe nicht die Beförderung bekommen, die ich mir erhofft habe.
Dort, wo wir nicht mit der Wirklichkeit dieser Situationen nicht in Einklang sind, leben wir nicht. Es ist, als hätten wir auf eine Pause Taste gedrückt.
Der Einklang mit der Wirklichkeit - der inneren und äußeren Wirklichkeit gleichzeitig - bringt uns mit dem Augenblick in Kontakt, und dieser Kontakt macht uns lebendig. Wir erleben Lösung im Sinne der Loslösung von einem inneren Wunsch, die Wirklichkeit müsste anders sein. Denn solange wir ihn haben können wir der Wirklichkeit nicht begegnen.
Die Wirklichkeit ist die bestimmende Kraft, wenn wir mit ihr in Konflikt sind. "Du kannst den Sturm nicht ändern, aber du kannst deine Segel anders setzen" lautet ein altes Sprichwort. So verhält es sich mit der Wirklichkeit auch. Also ist es schlau, ihr prinzipiell in einer annehmenden Haltung zu begegnen. Das ist eine der Grundprinzipien der Achtsamkeit.
Mit der Wirklichkeit in Einklang kommen
"Mit dem was ist - mit der Wirklichkeit in Einklang kommen", das klingt immer so einfach - aber wie soll das gehen? Und warum ist das überhaupt ein wichtiges Ziel? Das Thema ist komplex, weil in ihm sehr viele grundlegende Dinge zusammen kommen. Daher ist dieser Text ein bisschen länger als die meisten Einträge und nähert sich an - ohne ins Detail zu gehen. Mir ist es wichtig einmal einen grundlegenden Blick zu diesem Thema zu vermitteln. Konkrete Übungen finden sich in vielen der Einträge, die einen kleineren Fokus wählen.
Was ist die Wirklichkeit?
Die Wirklichkeit besteht aus unverrückbaren Tatsachen, die wir mit unseren Sinnen aufnehmen - ohne dass unser Bewusstsein wertend eingreift.
Wenn wir einen Unfall haben, und davon eine Verletzung davon tragen, die bleibend ist, hadern wir vielleicht lange damit. Das Hadern mit der Verletzung wünscht sich einen Zustand, wie er vorher war. Einen Zustand, in dem wir uns uneingeschränkt bewegen konnten. Doch in der Wirklichkeit existiert die Verletzung. Wenn sie uns nachhaltig einschränkt, wird sie zum Schicksal.
Wenn wir mit jemandem in Konflikt sind verzweifeln wir daran, das er so ist, wie er ist. Doch nur, weil wir daran verzweifeln, ändert es nichts an der Wirklichkeit. Ich kann nicht von meinem Gegenüber erwarten, dass er sich so verhält, wie es mir angenehm ist. Daß es möglich ist mein Gegenüber zu ändern ist eine weit verbreitete Illusion, die uns sehr häufig in Konflikt mit der Wirklichkeit bringt.
Wenn ich in einen Skiurlaub gebucht habe und es liegt kein Schnee, dann kann ich eine Woche lang schmollen, weil meine Erwartung eine andere war. In meinem Urlaub werde ich in dieser Haltung aber nicht mehr froh.
Manch einer bereitet sich lange auf einen beruflichen Termin oder ein wichtiges Rendezvous vor und geht dafür alles, was passieren wird zwanzigmal im Kopf durch. Doch ist die Wahrscheinlichkeit hoch, daß man enttäuscht wird. Denn jede Begegnung läuft in der Wirklichkeit anders und fühlt sich anders an als wir es im Vorhinein glauben.
Wenn wir unsere Vorstellung davon wie wir uns die Wirklichkeit wünschen nicht loslassen können, geraten in einen Konflikt zwischen unseren Erwartungshaltungen und der Wirklichkeit. Wir sind dadurch in der Situation nicht mehr präsent. Dort wo wir mit unseren Wünschen, Urteilen, Erwartungen, Hoffnungen mit der Wirklichkeit in Konflikt kommen, entsteht Leid, dass sich so lange nicht auflöst, bis wir die Wirklichkeit annehmen können, wie sie ist.
Aber wie kann ich mit einer Wirklichkeit in Einklang kommen, die ich so nicht haben will? Was ist dann mit meiner eigenen, meiner inneren Wirklichkeit? Werde ich in der Annahme von etwas was ich so nicht will nicht zum Opfer, dass sich selbst verrät?
Innere und äußere Wirklichkeit
Nur wenn es uns gelingt gleichzeitig mit der äußeren Wirklichkeit auch unsere innere Wirklichkeit anzunehmen wie sie ist - unsere enttäuschten Gefühle, Schmerz, Traurigkeit wirklich fühlen können, begegnen wir dem Augenblick so wie er ist. Wo das wirklich gelingt, fühlen wir uns nicht mehr als Opfer der Situation. Es wirkt lösend. Wir werden wieder klar - kommen zu uns. Diese Gefühle unterscheiden sich von Wut, Hass, Neid, Vorwurf, Anspruch oder Depression. Sie alle sind Gefühle oder Ausdruck von Gefühlen, die die Wirklichkeit anders haben wollen als sie ist.
Ein gutes Beispiel dafür ist unsere Beziehung mit unseren Eltern. Wenn wir das was sie uns teilweise angetan haben einfach nur nehmen wie es war und damit in Einklang kommen - was ist dann mit uns? Mit unseren Gefühlen? Damit, daß es für uns schlimm war, wir traurig waren, vielleicht beschämt und abgewertet? Nur wenn wir diese Gefühle in uns zulassen, "und uns mit ihnen zeigen" gelingt die Achtung vor den Eltern. Die Achtung vor den Eltern heißt in dem Fall die Anerkennung dessen dass es so war, und dass meine Eltern zu dem Zeitpunkt auch nicht anders konnten - und der Anerkennung dessen was das mit mir gemacht hat. So ist die ganze Wirklichkeit im Blick. Nur wenn beide Wirklichkeiten sein dürfen, entsteht Lösung. Und Lösung macht frei.
Wenn ich gern Sport mache, meine Verletzung mir aber bestimmte Sportarten nicht mehr erlaubt - welche Sportart kann ich dann machen,
und dort wieder die Freude erleben, die mir Sport bereitet?
Wenn ich im Skiurlaub anerkenne, dass kein Schnee liegt, und ich daran sowieso nichts ändern kann, kann ich wieder anfangen meine Woche so zu gestalten, dass sie mir Spaß macht. Eben ohne Skifahren.
Wenn ich anerkenne, dass mein Gegenüber so ist wie er ist, und ich daran nichts ändern kann, dann verläuft die Kommunikation in Anerkennung der Grenzen meines Gegenübers und meiner eigenen. Wo bringt uns das hin? Der persönliche Konflikt, der oft darin besteht, dass der eine den anderen zwingen möchte seine eigene Meinung - seine eigene Wirklichkeit zu übernehmen, hört auf. Wie ist es, wenn Beides sein darf? Wie schaut man dann zusammen darauf was zu lösen ist? Wie verständigt man sich?
Wo komme ich hin, wenn das Urteil gegenüber dem Anderen stirbt, und ich gleichzeitig nicht in den Selbstvorwurf oder die Selbstabwertung gehe - und ich so auf die Sache schaue?
Die Übung die Wirklichkeit so anzunehmen wie sie ist, ist schwierig und dauert ein Leben lang. Wir werden nie perfekt darin sein. Auch das ist eine Wirklichkeit. Doch eine die einen nicht davon abhalten sollte, wieder achtsam in den nächsten Augenblick zu gehen.
Übung:
Am besten ist es, diese Übung am Ende des Tages schriftlich zu machen. Sie wirft einen Blick auf einen Zusammenhang, der unserem Bewusstsein oft verborgenen bleibt.
Überall dort, wo ich im Laufe des Tages in Konflikt war, habe ich den Blick auf die Wirklichkeit verloren.
Schreibe zwei oder drei große oder kleine Konflikte auf, die du im Laufe des Tages hattest, und versuche für dich zu erkennen, welche Wirklichkeit du in dem Moment nicht anerkannt hast.
Dabei ist es wichtig, einen Konflikt immer in beide Richtungen anzuschauen. Wo war ich in Konflikt, weil ich eine eigene innere Wirklichkeit ignoriert habe, und wo war ich in Konflikt, weil ich eine äußere Wirklichkeit nicht annehmen konnte?
Die Lösung liegt immer im gleichen Umgang mit der Wirklichkeit. Sie nicht urteilend so anzunehmen wie sie ist - die innere wie die äußere Wirklichkeit. Wenn beide im Blick sind und sein dürfen bin ich lebendig und weder mit mir noch mit der Wirklichkeit in Konflikt.
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