Es gibt ein Märchen von einem Gärtner und seiner Frau, die zusammen einen Baum pflanzen. Dieser Baum möchte dem Licht entgegen, in die Höhe und in die Breite wachsen. Doch der Gärtner und die Gärtnerin haben eine Vorstellung davon wie der Baum aussehen soll, damit er in ihren Augen richtig ist. Also wird er ständig beschnitten.
Jedes Mal wenn der Baum beschnitten wird, wird er ein bißchen trauriger, denn so wie er gerne leben würde, darf er nicht leben. Denn das was er von sich aus tut, genügt in den Augen des Gärtners und der Gärtnerin nie. So verliert der Baum nach und nach seine Lebenslust und gibt sein Wachstum auf.
Schlußendlich nimmt er die Form an, die der Gärtner und die Gärtnerin ihm geben. Seine wahre Natur ist nach einiger Zeit nicht mehr sichtbar.
Unsere Persönlichkeit
Ich finde diese Geschichte sehr berührend. Sie berührt für mich eine Lebenserfahrung, die wir alle machen. Wir kommen auf die Welt. Wir haben kein Urteil über uns selber und auch nicht über andere. Alle Gefühle in uns sind uns zugänglich. Keines von ihnen ist gut oder schlecht. Wir wollen unserer Neugier folgen, staunen, uns für Dinge begeistern und freuen uns, wenn wir dort aufgefangen werden, wo wir über unsere Grenzen gehen. Gleichzeitig freuen wir uns, wenn wir ermutigt werden wieder etwas Neues zu probieren.
Doch meist machen wir sehr früh die Erfahrung, daß unser Vater oder Mutter es vielleicht nicht gern sehen, wenn wir weinen - oder wenn wir wütend werden - wenn wir Angst haben oder wenn wir zu viele Fragen stellen. Das macht uns traurig. Aber da wir von der Beziehung zu unseren Eltern abhängig sind, beginnen wir diese Gefühle nicht mehr zu zeigen.
Wenn wir sie lange nicht zeigen, vergessen wir, daß wir sie haben. Oder wir erleben sie mit schlechten Gewissen oder Scham.
So werden wir in gewisser Weise wie der Baum beschnitten. Unsere individuelle Persönlichkeit entwickelt sich so, wie es im Zusammenleben mit unseren Eltern möglich ist. Unabhängig davon wer wir wirklich sind, müssen wir uns nach einem Bild richten, das der Erwartungshaltung unserer Eltern entspricht. Sonst verlieren wir ihre Liebe.
So schneiden wir alle viel von unserer Ganzheit weg in unserem Leben. Was übrig bleibt ist das was man Persönlichkeit nennt. Mit allem was in uns nicht sein durfte, sind wir in Konflikt.
Wer wir "wirklich" sind
Wer wir "wirklich" sind, verändert sich nicht. Wir sind immer noch ganz. Wir merken es nur nicht mehr. Wir sind immer noch heile. Aber das können wir nicht fühlen. Das können wir aber erst erkennen, wenn wir wieder in Beziehung mit dem gehen, was wir in uns als nicht mehr zugehörig empfinden.
Erst wenn wir unser eigenes inneres Urteil über uns aufgeben, können wir wieder ganz werden - können wir wieder zu unserer wahren Natur zurückfinden. Diese Haltung ist ein ganz wesentlicher Aspekt der Übung der Achtsamkeit.
Ein anderes Bild von Erziehung
Das Märchen vom Gärtner und seiner Frau endet damit, daß ein Mädchen mit ihrem Vater beim Baum vorbei kommt. Das Mädchen sieht den beschnittenen Baum und wird traurig, weil der Baum nicht so wachsen durfte, wie er wollte. Es spürt, wie traurig der Baum ist. Ihr Vater antwortet darauf: “Weißt du, keiner darf so wachsen wie er will, weil sonst die anderen merken würden, dass auch sie nicht so gewachsen sind, wie sie eigentlich mal wollten.”
Seine Antwort macht den Vater selber nachdenklich. Schweigend geht er mit seiner Tochter weiter. Denn er kommt in Kontakt mit dem was "er selber" alles nicht leben konnte, obwohl es in ihm war.
Womit sind wir in der Erziehung in Kontakt?
Wenn wir mit unseren Kindern zusammen leben, sind wir oft in Kontakt mit unserer eigenen Vorstellung davon, wie wir uns unser Kind wünschen. Verhält es sich anders, sind wir vielleicht enttäuscht, abweisend oder wütend. Unser Kind merkt das und paßt sich an. Zudem sind wir auch in Kontakt mit dem was "die Gesellschaft" von einem Kind erwartet. Wir wollen, daß sich unser Kind da einfügt, damit es keine Probleme hat.
Aber sind wir darin auch in Kontakt damit, wer unser Kind ist? Was seine Bedürfnisse sind? Wohin seine Neugier geht? Bestärken wir es in dem was es von sich aus tun möchte?
Wie leicht fällt es uns, Gefühle in unseren Kindern auszuhalten, die wir in uns selber nicht spüren wollen?
Und wie geht es uns, wenn wir uns eingestehen, daß auch wir nicht so gewachsen sind, wie wir eigentlich mal wachsen wollten? Welche Gefühle kommen dann in uns hoch?
Läßt man Bäume wachsen wie es ihrer Natur entspricht und schaut, daß sie gute Bedingungen, einen guten Boden und reichlich Wasser haben - oder "erzieht" man sie nach seinen Vorstellungen?
Läßt man Kinder wachsen wie es ihrer Natur entspricht oder versucht man sie durch Erziehung in eine Form zu bringen, die für einen selber angenehm ist?
Beziehung
Letztlich sind unsere Kinder der Spiegel unserer eigenen Ganzheit. Je mehr wir von uns selber leben lassen können, desto mehr Freiheit können wir unseren Kindern darin geben sich so zu entwickeln, wie sie von Natur aus sind.