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Warum wir uns anschreien


Wir kennen alle die Situation. Ein Wort gibt das andere. Und ehe man es sich versieht, wird es laut. Aber warum wird es eigentlich laut?

Das hat eigentlich einen recht banalen Hintergrund. Beide sind verletzt, beide fühlen sich nicht verstanden, und sind dadurch emotionalisiert.

Jeder versucht Gehör zu finden.

Kommt man in eine Situation, in der man sich nicht verstanden fühlt, tendiert man dazu sein Gegenüber zu unterbrechen. Das Gegenüber kommt in das gleiche Gefühl - immer weniger Sätze werden ausgeredet, weil man schon wieder unterbrochen wird, und irgendwann beginnt einer die Stimme zu heben, um sich Gehör zu verschaffen, und der andere zieht mit.

Das Gespräch wird zum Machtkampf

Was in dieser emotionalisierten Situation niemand mehr mit bekommt, ist daß gar kein Gespräch mehr im Gange ist, sondern nur noch ein Machtkampf, in dem sich beide als Opfer fühlen, und das jeweilige Gegenüber als Täter sehen. Es ist eine spiegelgleiche Situation, aus der es im Streit kein Entrinnen und keine Lösung gibt. Denn im Streit sind wir nicht mehr in der Lage unser Gegenüber zu sehen. Beide Seiten versuchen durch Aggression ihre Grenze zu wahren. Dadurch folgt ein Vorwurf dem nächsten und der Streit eskaliert.

Wenn man diese Dynamik einmal erkennen kann, begreift man, daß es im Weiter Streiten nichts zu gewinnen gibt. Beziehung findet hier nicht mehr statt. Im Anspruch vom anderen gehört werden zu wollen ist man völlig blind dafür, daß nur zuhören zur Lösung führt. So kommt es nicht von ungefähr, daß die Wut oft auch als blind bezeichnet wird.

Eventuell ist in so einem Konflikt doch einer lauter und aggressiver und der Andere gibt dann irgendwann klein bei. Dann gibt es einen Gewinner und einen Verlierer - verloren hat aber die Beziehung. Das, was beide Seiten eigentlich bräuchten, kriegen sie beide nicht - nämlich gehört und gesehen zu werden.

Und solange das nicht passiert, ist der Konflikt nicht beendet. Denn wenn in einem Streit einer scheinbar gewinnt, ist es der Andere seiner Würde schuldig, den anderen in Folge zu boykottieren. Das ist ein Naturgesetz des Ausgleichs, dem niemand ausweichen kann. Jeder Streit, der im Streit endet, oder der scheinbar zugunsten der dominanten Partei ausgeht, ist in Wirklichkeit ein Verlust für beide Seiten.

Wie komme ich aus der Situation wieder raus?

Es gibt nur eine Möglichkeit aus einem in dieser Art eskalierenden Streit wieder heraus zu kommen und die Situation zu einer guten Lösung zu bringen. Und so schwer es auch fällt - sie heißt Zuhören.

Je emotionalisierter man ist, desto schwieriger ist es, dem Gegenüber zuzuhören. Bei jedem Halbsatz regt sich Widerstand und möchte man schon wieder aufschreien. Und doch ist es der einzige Weg. Zuhören und den anderen ausreden zu lassen. Ohne ihn zu unterbrechen und ohne den inneren Vorwurf, der in der Situation da ist auszusprechen.

Wenn man das anfangs probiert, wird man sich vorkommen wie jemand, der sich in seiner Wut an einen Pfahl fest ketten muß, um nicht gleich wieder zu unterbrechen. Doch wenn es gelingt beim Zuhören zu bleiben und wirklich beim anderen zu sein, legen sich diese Gefühle. Denn Stück für Stück wird es möglich zu verstehen, wie der andere die Situation erlebt hat.

Wer diesen Weg geht, wird sehen, daß das Gegenüber mit der Zeit ruhiger wird. Denn es gibt keinen Grund mehr zu schreien. Was auch immer ich nicht verstehe, bei dem was mir mein Gegenüber sagt, es ist am besten nachzufragen wie er es meint, bevor ich mir in der Situation wieder ein Urteil mache.

Jemand, dem zugehört wurde, der ausreden durfte, ohne daß gleich ein Vorwurf folgt, ist auch bereit dem Anderen zuzuhören. Je länger es gelingt dem Gegenüber zuzuhören, ihn nicht zu unterbrechen, und dabei bei ihm zu bleiben, desto überraschter wird man sein, daß sich das Bild des Gegenübers in diesem Prozeß wandelt. Man ist weniger emotionalisiert und kommt selber wieder besser mit der Wirklichkeit der Situation in Kontakt.

Wenn man dann die Gelegenheit hat selber zu reden, ist der Boden dafür bereitet, daß einem auch der Andere zuhört. So kann der Konflikt Stück für Stück deeskalieren.

 

Übung

In dem Wissen, daß ein eskalierender Streit niemals zu einer guten Lösung kommen kann, ist es im nächsten lauten Streit vielleicht möglich sich für einen kurzen Augenblick daran zu erinnern, daß "Zuhören und Nachfragen" die einzige Möglichkeit ist die Eskalation zu stoppen - und im besten Fall in eine Situation zu kommen, in der man den anderen verstehen kann. Nur wenn wir uns zuhören und verstehen, findet Beziehung statt.

Unter allen Wahrnehmungsübungen, die ich hier vorschlage, ist das wahrscheinlich eine der schwersten. Denn wenn jemand uns gegenüber aggressiv wird, springt die Energie sehr schnell auf uns über, und wir reagieren mit der gleichen Aggressivität zurück. Das passiert sehr schnell - in Sekundenbruchteilen. Und wenn man erst mal emotionalisiert ist, dann fährt die Emotion der gegenseitigen Aggression mit großer Wucht und Zerstörungskraft..

Wenn man in der Situation die Geistesgegenwärtigkeit und den Mut findet einfach nur zuzuhören, ist man anfangs wahrscheinlich mit einer Reihe an Vorwürfen konfrontiert, die man als ungerechtfertigt empfindet. Es ist nicht leicht, dabei ruhig zu bleiben. Aber es lohnt sich.

Dort, wo dieser Weg gelingt, gelingt es beiden Seiten ihre Würde zu bewahren, und sich gegenseitig zu verstehen. Beide können gesehen werden und beide verstehen sich. So gelingt Beziehung.

Ist es nicht möglich in einem lauten Streit auf Zuhören umzuschalten, so ist die nächstbeste Option, den lauten Streit zu beenden - im gegenseitigen Verständnis, daß man sich über die Sache unterhält, wenn die Emotionen gerade nicht so hoch schlagen. Dann kann man sich auch eine ritualisierte Form ausmachen über das Thema zu reden. Erst kriegt einer 10 Minuten - dann der andere. Und während dieser 10 Minuten sagt der andere jeweils gar nichts. Er hört nur zu - im Bemühen zu verstehen wie es sich anfühlt die Situation aus der Sicht des Anderen zu erleben.


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