Mein Gehirn ist ein Verdauungsorgan
- Dirk Meints
- 6. Juni
- 5 Min. Lesezeit
Es war für mich eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der Achtsamkeit und aus der Gehirnforschung, mein Gehirn als Verdauungsorgan zu begreifen. So wie mein Magen Nahrung verdaut, verdaut mein Gehirn Erlebnisse.
Wenn es um Nahrung geht, sind zwei Fragen wichtig - wie viel esse ich, so, dass es mein Körper noch verarbeiten kann und wie einfach mache ich es meinem Magen, Nahrung zu verdauen, weil ich Dinge esse, die leicht verdaulich sind?

Aus dieser Allegorie ergeben sich zwei wichtige Fragen. Wie "viele" Erlebnisse und Informationen mute ich meinem Gehirn zu? Und "welche Art von Erlebnissen" und "Informationen" möchte ich meinem Gehirn zumuten? Denn genau wie beim Essen hat die Menge und Qualität der Erlebnisse seinen Preis bei der Verdauung.
Mein Gehirn ist ein perfekter Verarbeitungsmechanismus, der unglaubliche Mengen an emotionalen Erlebnissen speichert und sinnvoll mit schon gemachten Erfahrungen verbindet.
Doch was passiert, wenn die Menge der Erfahrungen zu viel wird?
Überforderung
Überforderung, mir ist alles zu viel, ich kann mich nicht mehr konzentrieren, ich bin zerstreut, abwesend, bekomme nicht mit, was gerade passiert, lese eine Seite und weiß nicht, was da stand...... All das sind Symptome, die anzeigen, dass die Geschwindigkeit, in der mein Gehirn Informationen verarbeiten kann, nicht mehr ausreicht.
Mein Gehirn stellt dann sozusagen in einen Notfallmodus. Um mit dem Verarbeiten nachzukommen, blendet es in meiner jetzigen Realität alles aus, was es nicht als so wichtig erachtet. Einfach, damit es mehr Kapazität hat, sich zu ordnen und Lösungen zu finden, die vorhandene Probleme lösen.
Jede Frage, die ich mir stelle, ist für mein Unbewusstes eine unglaublich komplexe Rechenaufgabe, in der pro Sekunde 20 Millionen Informationen verarbeitet werden, um die beste Lösung zu finden. Wenn dann ständig noch neue Aufgaben von außen dazu kommen, schaltet das Gehirn einfach Aufmerksamkeit im Außen ab, um mit der Informationsflut zurechtzukommen.
Der Effekt von Überforderung ist also, dass ich aufhöre, im Moment zu existieren. Ich bin in meinem Kopf nur noch mit Vergangenem und Zukünftigem beschäftigt. Und meine Aufmerksamkeit ist zerstreut. Ich komme nicht mehr zu mir.
Doch das ist nicht der einzige Mechanismus, der die Verdauung schwer macht. Schweres Essen ist nicht so leicht zu verdauen wie Salat. Und so ist es auch mit den Erlebnissen.
Konflikt und Ängste
Je bedrohlicher die Dinge sind, die mich beschäftigen, je mehr Angst ich in einer Situation habe, umso disfunktionaler wird mein Gehirn. Denn mit der Angst kommt es zu einer Anspannung, zu einer Verengung meiner Gefühle und meiner Perspektiven, und mein Kopf wird nebelig, weil das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet wird.
Je angespannter ich bin, umso mehr Gefühle werden in mir unterdrückt und so verliere ich mein Bauchgefühl und meine Intuition, beziehungsweise einen großen Teil der 20 Millionen Informationen, die ich oben schon angesprochen habe. Denn diese 20 Millionen Informationen betreffen die emotionale Auswertung von Ereignissen. Mein denkendes Gehirn schafft nur 2000 Informationen pro Sekunde. Daher werden 95% aller Entscheidungen im Laufe des Tages emotional getroffen.
Bin ich durch Verengung von Teilen meiner Gefühle abgeschnitten, spüre ich mich nicht mehr und befinde mich in endlosen Grübelspiralen, weil mein denkendes Gehirn in der Angst die Verbindung zu Gefühlen verloren hat. Zudem wird die Welt bedrohlich. Ich bin verletzlich, gereizt, und nehme Dinge schnell persönlich. Mit einem Wort - je mehr Angst Teil meiner jetzigen Situation ist, umso mehr bin ich mit mir und anderen in Konflikt.
In diesem Zustand lenken Angstgefühle meine Entscheidungen und Reaktionen, und ich werde zum Beifahrer meines Lebens.
Wie ich auf Überforderung und Ängste reagiere
Es ist in gewisser Weise reine Mechanik der Psyche, dass mein Gehirn auf Dauer in einem "zu viel" genauso Probleme bekommt, optimal zu funktionieren, wie in Situationen, die mir Angst machen.
Als Folge bin ich dann meist in einem Zustand, in dem ich mich selbst infrage stelle, in dem ich Selbstwert verliere, in dem ich glaube, mich noch mehr anstrengen zu müssen. Und durch diese Gefühle und Gedanken zieht es mich noch tiefer in Überforderungen und Ängste hinein.
Bin ich überfordert und ängstlich, halte ich es nicht mehr gut aus, mit mir zu sein. Momente, in denen ich Ruhe finden möchte, zu solchen, in denen meine Probleme in mir besonders laut werden. Es ist dann nur verständlich, dass ich dann versuche, mich abzulenken oder zu betäuben. Ablenken kann ich mich dann besonders gut mit allen Dingen, die starke Reize bieten. Denn sie sind lauter als die inneren Stimmen. Betäuben kann ich mich mit allem, was eine angenehme Flucht aus mir selbst bietet.
Das Problem ist nur, dass diese Wege wieder dazu führen, dass mein Gehirn weitere starke emotionale Erlebnisse zusätzlich verarbeiten muss, obwohl es doch eigentlich Ruhe braucht. Auf diesem Weg verstärken Ablenkung und Betäubung also die Dysfunktionalität und Überforderung meines Gehirns. Und irgendwann kommt doch der Moment, in dem ich mir wieder selbst begegne.
Dann liege ich mit offenen Augen im Bett und kann nicht schlafen, weil meine Gedanken und Gefühle so laut sind, dass ich nicht zur Ruhe kommen kann.
Überforderung und Ängste zusammen bewirken also, dass einige Zahnräder, die ineinander greifen sollten, einfach ihren Dienst einstellen. Und dann wird es unglaublich anstrengend, die Dinge zu tun, die das Leben so von einem fordert. Denn wenn mein Gehirn mit der Verdauung nicht nachkommt, wird die Energie, die ich dann in Dinge rein stecken muss, immer größer und ich werde immer erschöpfter.
Meine Verantwortung
So wie es also meine Verantwortung ist, gut auf mich zu schauen, was ich esse und wie viel, ist es auch meine Verantwortung mir selbst gegenüber, darauf zu achten, dass ich auf längere Sicht nicht überfordert bin und unter einem permanenten "zu viel" leide. Denn mein Gehirn kann das dann nicht mehr regeln.
Und genauso ist es meine Verantwortung, darauf zu achten, dass die Elemente in meinem Leben, die mir Angst machen, möglichst gering sind. Denn je mehr Angst ich ausgesetzt bin, umso mehr verliere ich mein Selbst.
Daher ist meine Verantwortung mir selbst gegenüber, sehr bewusst darauf zu achten, dass jede Anstrengung ihre Regeneration bekommt, dass jede Überforderung eine Ruhepause nach sich zieht.
Wenn ich gefordert, aber nicht überfordert bin, wenn ich Ängste habe und darauf schauen kann, sie zu reduzieren, dann bin ich an einem guten Ort, an dem mein Gehirn die Möglichkeit hat, alles, was ich erlebe und lerne, gut zu verarbeiten und zuzuordnen. Dann bleibe ich lebendig und Freude und Leichtigkeit bekommen wieder einen Platz in meinem Leben.
Und dann arbeitet mein Gehirn von ganz alleine daran, mich mit mir selbst und anderen gut in Beziehung zu halten.
Ich verändere etwas, statt mich selbst infrage zu stellen
Je mehr ich darauf also darauf achte, mich nicht in Situationen zu bringen, die mich überfordern und die mir Angst machen, umso mehr werde ich mit mir und der Welt um mich herum in Einklang sein.
Überforderung und Ängste aus dieser Perspektive zu sehen, führt in eine ganz klare Perspektive. Ich muss mich nicht selbst infrage stellen. Ich muss mich nicht verändern, um gut zu funktionieren.
Ich bin vielmehr dafür verantwortlich, darauf zu schauen, unter welchen Umständen ich, so wie ich bin, gut leben kann. Ich ändere die äußeren Umstände meines Lebens so, dass sie zu mir passen, statt mich in Umstände rein zu zwingen, die mich überfordern.
Wenn ich den Fokus in diese Richtung lenke, können die äußeren Veränderungen oft schnell dazu führen, dass ich in ein ganz anderes Lebensgefühl komme und in ein ganz anderes Selbstbild.
Übung:
Schau diese Woche auf dein Leben und sei ehrlich zu dir, wo du in deinem Leben lang anhaltende Überforderungen wahrnimmst. Und wo du in deinem Leben ein Maß von Angst empfindest, dass du dich zwingen musst, blockiert bist und nachhaltig nicht aus deinen Verspannungen herauskommst.
Was kannst du an den Umständen in deinem Leben ändern, dass du Überforderungen und Ängste reduzieren kannst. Jeder Schritt, der dir in der Richtung gelingt, führt dich wieder näher zu dir selbst und bringt ein Stück Lebensfreude und Lebensqualität zurück.
Je mehr du zu dir kommst, umso mehr Zahnräder arbeiten in deinem Gehirn wieder so zusammen, dass du die beste Version deiner Selbst wirst.