Ich möchte heute über einen interessanten Lösungsweg aus Streßsituationen schreiben - die Lösung über den Körper. Um zu verstehen wie und warum dieser Lösungsweg funktioniert, gebe ich heute einen kleinen Überblick über die Anatomie von Streßsituationen.
Die Streßsituation besteht auf der einen Seite aus dem "Ablauf der Streßreaktion" selber - und "der tieferen Ursache", warum wir in einer gegebenen Situation überhaupt in Konflikt mit etwas oder jemandem kommen und warum wir uns dabei in meist in ähnlichen Verhaltensmustern wieder finden.
Was passiert in einer Streßsituation
In einer Streßsituation erleben wir subjektiv Gefahr. Sobald für uns etwas bedrohlich wird, übernimmt älterer Teil unseres Hirns sozusagen das Ruder. Dieser Teil reagiert auf Bedrohung in der Regel unmittelbar mit Flucht oder Angriff. Nur wenn beide nicht möglich sind, gehen wir in eine Art Totstellreflex. Dieser Totstellreflex tut sozusagen so, als wären wir nicht mehr da. Wir zeigen nach außen keine Reaktion und innerlich spalten wir uns von allen Gefühlen ab. Letzteres ist der Notfallmodus des Überlebens, wenn wir uns in einer Situation völlig ohnmächtig fühlen.
Der ältere Teil unseres Hirns ist sozusagen vom denkenden rationalen Hirn abgekoppelt, funktioniert rein emotional und ist unbewußt gesteuert. Das macht ihn auch schneller als den denkenden Teil unseres Hirns. Schneller vor allem in der Reaktion auf Situationen, die wir aus Erfahrung als bedrohlich empfinden.
Das hat zur Folge, daß wir bei Streß in der Regel von einer starken Emotion geflutet werden. Gleichzeitig setzt unser rationales Denken aus. Dieser Teil unseres Gehirns verliert in der Streßsituation signifikant an Aktivität. Er darf sozusagen erst wieder mit machen, wenn es nicht mehr ums Überleben geht.
Jeder kennt die Situation im Konflikt. Ein Wort gibt in der Emotion der Wut das andere oder wir können gar nichts mehr sagen und keinen klaren Gedanken fassen. Innerlich sind wir dann nur damit beschäftigt möglichst schnell aus dieser unangenehmen Situation wegzukommen.
Da wir heute in sozialen Situationen kaum körperlich wegrennen oder angreifen können, bleibt die Reaktion auf der emotionalen Ebene und drückt sich entweder in Rückzug und Depression oder in Angriff, Wut und Aggression aus. Beide Reaktionen ziehen eine Grenze zu einem als bedrohlich empfundenen Geschehen.
Aber wir sind in beiden emotionalen Situationen sozusagen nicht ganz bei uns. Andere Gefühle als die in der Situation starken dominanten Emotionen stehen uns in der Situation nicht zur Verfügung und klar denken können wir auch nicht mehr. Wir sind in der Streßreaktion so damit beschäftigt eine Grenze zu ziehen, daß wir weder mit uns, noch mit unserem Gegenüber in Kontakt sind.
Erst wenn wir vom Konflikt wieder weit genug weg sind und wir uns beruhigen, kommen wieder unsere anderen Gefühle, und unser rationales Denken zurück. Dann fällt uns auf einmal ein was wir hätten sagen können - wie wir hätten handeln können. Aber jetzt ist die Situation vorbei.
Warum reagieren wir wie wir reagieren?
Auf welche sozialen Situationen wir mit Streß reagieren ist sehr individuell. Es ist Teil unserer Persönlichkeit. Der eine hat Streß, wenn andere zu langsam sind, der andere, wenn sie zu schnell sind. Der eine bekommt Streß, wenn jemand emotional wird - der andere, wenn sich sein Gegenüber entzieht und nichts sagt.
Worauf wir mit Streß reagieren, kommt aus unserer persönlichen Geschichte. In unserer Herkunftsfamilie haben sich bestimmte für uns unangenehme Situationen öfter wiederholt. Umzugehen mit dem Zorn unserer Mutter oder den Vorwürfen unseres Vaters, der Depression des einen, dem Konkurrenzverhältnis zum anderen Elternteil - was auch immer es in unserer persönlichen Geschichte war- wir haben gelernt wie wir in der Familiensituation so darauf reagieren, daß wir möglichst gut unsere Zugehörigkeit behalten, und möglichst wenig in Konflikt kommen.
Diese Reaktionen auf wiederholte stressige Situationen in der Familie werden erlernte Reaktionsmuster. Diese Reaktionsmuster werden automatisiert und laufen bei Konflikten völlig unbewußt ab.
In unserem Hirn entstehen bei der Wiederholung einer gleich erlebten Situation neuronale Verbindungen, die ein Reaktionsmuster formen. Je öfter wir eine Situation erleben, desto stärker werden die Verbindungen, und desto schneller und automatischer reagieren wir auf eine uns gewohnte Art und Weise. Es bilden sich sozusagen neuronale Autobahnen in uns, die uns unbewußt immer wieder gleich reagieren lassen.
Haben wir in unserer Kindheit ein Reaktionsmuster in Bezug auf bestimmte Konfliktsituationen ausgebildet, reagieren wir in emotional ähnlichen Situationen mit Anderen als Erwachsene sehr schnell wieder so wie wir es als Kind gelernt haben. Wir fallen ganz unwillkürlich in uns bekannte Reaktionen - auch wenn wir das nicht wollen und sie heute nicht mehr angemessen sind. Wir erleben uns sozusagen als Gefangene alter Reaktionsmuster. Da sie aber unbewußt sind, haben wir auf sie keinen Einfluß und Zugriff.
Das ist die tiefere Ursache für viele Konflikte, die wir als Erwachsene erleben. Diese Ursache erklärt auch, warum wir uns als Erwachsene in Konfliktsituationen oft so ohnmächtig und klein fühlen wie ein Kind. In gewisser Weise ist dieses Gefühl nicht falsch. In Bezug auf diese Konflikte sind wir in gewisser Weise nicht älter geworden. Wir erleben sie emotional noch genauso wie als Kind.
Wie reagiert unser Körper?
Körperlich spannen wir uns in Streßsituationen an, bekommen alle möglichen körperlichen Symptome wie schwitzen, zittern, einen flachen Atem, weiche Knie, ein zusammen gekrampftes Herz, Magenschmerzen und viele mehr.
Die Anspannung des Körpers löst nicht nur eine flachere und schnellere Atmung aus, oder daß wir unseren Atem völlig anhalten. Die Anspannung des Körpers löst auch den Gefühlen zugehörige Körperhaltungen aus. Sobald wir in diese Körperhaltungen kommen, sind uns nur noch bestimmte Gefühle möglich. Andere können wir nicht mehr fühlen.
Die Körperreaktionen der Anspannung sind der unwillkürlichste Ausdruck unseres persönlichen Konfliktverhaltens in Bezug auf bestimmte Situationen. Sie bringen uns in einem Bruchteil von Sekunden in bestimmte erlernte Emotionen. Das alles passiert völlig unbewußt und meist so schnell, daß wir darauf keinen Einfluß haben.
Jemand, der aggressiv ist, hat eine ganz andere Körperhaltung als jemand, der von der Situation eingeschüchtert ist. Diese Haltungen sind universell. Sie werden von jedem bei bestimmten Emotionen eingenommen und von außen werden sie von jedem erkannt.
Wir machen alle die Erfahrung, daß wir uns "verspannen", wenn wir lange mit uns belastenden Situationen konfrontiert sind. Verspannungen kommen dort, wo wir uns immer und immer wieder anspannen. Sind wir also in der Verspannung, verlieren wir über längere Zeit bestimmte Gefühle, weil sie uns durch die zur Verspannung gehörenden Körperhaltung nicht mehr zugänglich sind. So entwickeln wir mit unseren Persönlichkeiten ausgeprägte Charaktere.
Nur die Entspannung der verspannten Teile verschafft uns wieder Zugang zu unseren Gefühlen und stellt den Energiefluß in diesem Körperteil wieder ganz her.
Unser Körper kann unsere Gefühle steuern
In einer Streßsituation finden wir uns also in einer interessanten Ausnahmesituation wieder. Unser Denken ist ausgesetzt. Also können wir auch mit unserem Denken kaum einen konstruktiven Einfluß auf die Situation nehmen. Unser Gefühl ist oft reduziert auf eine starke Emotion, die uns überwältigt und alle anderen Gefühle sind uns in dem Moment nicht zugänglich.
Wenn man genau hinschaut sieht man, daß unser Körper durch Streßhormone und Verbindungen mit früheren schon so erlebten Situationen in eine Haltung kommt, die ihm nur noch bestimmte Gefühle erlaubt. Die Gefühle richten sich also nach dem Körper. Und die Gedanken wiederum kreisen in der Situation um die Gefühle.
Auf der Ebene der Gefühle und Gedanken haben wir in der Streßsituation also keine Handlungsmöglichkeit um wieder zu uns zu kommen.
In eine andere Körperhaltung finden
Die Achtsamkeit arbeitet in Streßsituationen ganz bewußt damit auf den eigenen Atem zu achten und sich ganz bewußt im Körper zu verankern. Das hat in sich einen beruhigenden Effekt und kann viel von der Anspannung lösen, die wir in der Situation in uns haben.
Noch effizienter ist es, zusätzlich in Streßsituationen ganz bewußt auf die eigene Körperhaltung zu achten. Sich ganz bewußt mit dem Oberkörper in eine aufrechte und gleichzeitig entspannte Haltung zu bringen. Genau so wie wir es in der Meditation machen. Den Oberkörper ganz aufgerichtet - besonders im Bereich des Zwerchfells. Die Schultern dabei locker, die Rückenmuskeln ebenfalls, die Hände locker hängend, die Handflächen offen. Die Wirbelsäule wird hier nur von der Tiefenmuskulatur gehalten. Falls wir sonst im Körper Anspannungen merken - wie im Gesichtsbereich, Nacken, oder sonst wo, können wir sie bewußt loslassen. Mit dieser Haltung geht große Klarheit, Verbundenheit mit sich selbst und dem Außen einher.
Es reicht tatsächlich in einer Streßsituation in eine andere Körperhaltung zu finden. Die Gefühle und Gedanken richten sich nach der Körperhaltung aus. Der Effekt ist verblüffend.
Wenn es mir gelingt in einer Streßsituation in eine klare Körperhaltung zu kommen, endet der Konflikt, den ich mit der Situation habe. Ich kann wieder auf gute Art und Weise zu meinen Grenzen stehen. In Beziehung mit mir selbst und dem anderen.
Um diesen Effekt zu spüren braucht es keine besondere Fähigkeit. Die richtige Haltung zu kennen ist wichtig. Und es braucht die Übung darin so bewußt zu bleiben, daß ich in einer Streßsituation die Zehntelsekunde habe, in der ich anders reagieren kann. In der ich mich entscheiden kann nicht gleich in die emotionale Reaktion zu gehen, sondern in eine Körperhaltung, die hilfreich und konstruktiv ist - für mich und mein Gegenüber.
So kann ich den üblichen Mustern meiner neuronalen Autobahnen elegant ausweichen.
Neuroplastizität
Der Körper ist bei Streß dominant in Bezug auf Gefühle und Gedanken. Wenn unser Bewußtsein in Konfliktsituationen mit diesem Wissen arbeiten kann, erleben wir eine veränderte Welt - und wir erleben uns selber anders in Streßsituationen.
Je öfter es uns gelingt Streßsituationen auf diese Art und Weise erfolgreich zu durchleben, desto mehr neue neuronale Verbindungen werden in unserem Hirn gebaut. Je öfter wir dieses Erlebnis haben, desto mehr wird es zu einem Teil unserer Persönlichkeit. Und damit wird dieses Verhalten Teil unserer unwillkürlichen Reaktionen auf mehr und mehr Dinge, die uns im Leben belasten.
Diese Eigenschaft des Gehirns nennt man Neuroplastizität. Sie bleibt unser ganzes Leben lang erhalten. So können wir uns mit Übung unser ganzes Leben lang Stück für Stück verändern und Stück für Stück lernen mit Streß besser umzugehen.
Übung
Es gibt viele Übungen, bei denen man durch bewußtes "Verkörpern" von Gefühlen eine positive Entwicklung begleiten kann. In diesem Eintrag kann ich nicht in jedes Detail gehen.
Aber ich ermutige fürs Erste jeden sich darin kennenzulernen, wie er selber Streßsituationen wahrnimmt - was in ihm passiert - und was Situationen und Menschen sind, die ihm besonders viel Streß machen. Es gibt immer eine Entsprechung in der eigenen Biografie, wo man "gelernt" hat sich so zu verhalten wie man es heute tut.
In Schritt zwei ermutige ich jeden, für ihn stärkende und nährende Emotionen zu "verkörpern" (sich in diese Haltungen begeben und die Emotion spüren), bevor er sich in Situationen begibt, die potenziell stressend und bedrohlich für ihn sind. Die bewußte Körpererinnerung an die positive und klare Haltung kann in der Streßsituation ohne Verzögerung dafür sorgen, daß man wieder gut zu sich kommt, und die Situation klar beurteilen kann - ohne emotional weggeschwemmt zu werden.
Alles in der Achtsamkeit ist eine Übungssache. Ob es mir gelingt mich im Konfliktfall daran zu erinnern, wie die Körperhaltung das Gefühl und die Gedanken dominiert, ist ganz essenziell.
Der erste Schritt
In einer Situation bewusst zu merken, daß man gestresst ist, ist der erste Schritt.
Wenn man das mit bekommt, kann man beginnen mit seinem Atem und mit seinem Körper daran zu arbeiten in der Situation wieder zu sich zu finden.
Eine regelmäßige Meditationspraxis und die bewußte kontinuierliche Beschäftigung mit dem eigenen Stressverhalten schafft aus meiner Sicht eine gute Basis dafür, daß die Übung gelingen kann.