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Objektive und subjektive Wahrnehmung

Wir haben alle eine objektive und eine subjektive Wahrnehmung. Ein wichtiges Grundprinzip der Achtsamkeit ist, dass wir uns beider Wahrnehmungen "bewusst" sind und so mit unserer inneren und äußeren Wirklichkeit gleichzeitig verbunden.

Objektive und subjektive Wahrnehmung I Achtsamkeit Blog

Die Rosinenübung


Gleich am ersten Abend des klassischen MBSR Workshops mache ich mit meinen Kursteilnehmern die sogenannte Rosinenübung. Sie besteht darin, die Rosine mit allen Sinnen zu erfassen und zu beschreiben. So wird die Rosine mit den Augen, den Fingern, der Nase, den Ohren, den Lippen und der Zunge erforscht. Dabei entsteht ein ganz objektives und sehr genaues Bild einer Rosine.


Wie ein Fotoapparat nehmen unsere Sinne ein objektives Bild unserer Umgebung auf, das uns immer zugänglich ist, wenn wir den Fokus - also unsere bewusste Aufmerksamkeit auf diese objektive Wirklichkeit lenken.


Ist dieser Teil der Übung gemacht, frage ich die subjektive Wahrnehmung der Kursteilnehmer ab. "Ich hasse Rosinen. Da denke ich sofort an Weihnachten. Ein Albtraum," war dann gleich der Kommentar einer Teilnehmerin. "Ich liebe Rosinen", "Rosinen sind mir völlig egal", "ich habe überhaupt noch nie eine Rosine gegessen", die sind "hässlich", "wunderbar" und für den nächsten abscheulich." Es gibt an jedem Kursabend eine ganze Bandbreite an Emotionen gegenüber Rosinen.


Was lehrt uns diese Übung?


Die Rosine kann nichts dafür. Sie ist ganz objektiv nur eine Rosine. Aber jeder Teilnehmer im Raum verbindet mit Rosine andere Erinnerungen und Beziehungserfahrungen. Jeder hat also zu Rosine einen ganz eigenen subjektiven emotionalen Zustand - eine ganz eigene subjektive Beziehung. Diese subjektive, emotionale Reaktion wird innerhalb von Sekundenbruchteilen aktiviert. Und mit ihr ganz schnell auch ein positives oder negatives Urteil.


Vergleicht man die ganzen subjektiven Reaktionen, sieht man, dass niemand recht hat. Es hat einfach nur jeder etwas anderes mit Rosinen erlebt. Daher hat sie für jeden eine andere Bedeutung.


Negative Emotionen verhindern Beziehung


Verbinde ich mit etwas negative Erfahrungen, versuchen meine Emotionen den Kontakt dazu zu vermeiden. Nicht angreifen, nicht in den Mund stecken. Das ist scheußlich. Und so verlieren wir mit der Zeit ganz die Erfahrung, wie es ist, eine Rosine zu essen.


Natürlich ist die Rosine in der Übung nur ein Platzhalter für alle Beziehungen, die wir emotional positiv oder negativ bewerten. In meiner Kindheit habe ich mal auf eine Zeichnung von mir eine vernichtende Kritik von einer Lehrerin bekommen, die gleich mit angemerkt hat, dass ich völlig untalentiert bin und nie lernen werde, gut zu zeichnen. Daraufhin habe ich nach Möglichkeit vermieden, irgendetwas zu zeichnen und habe mich irgendwie durch geschummelt. Zeichnen habe ich dadurch natürlich nie geübt und dadurch auch nie gelernt. Einfach, weil ich so beschämt worden bin.


So kommt in mir ganz schnell ein "das kann ich nicht". Bei Mathematik das Gleiche. Fürchterlich - ich will da gar nicht hinschauen. Was auch immer mit negativen Beziehungserfahrungen belegt ist, da vermeiden wir den Kontakt. Menschen, die uns unangenehm sind, denen können wir nicht in die Augen schauen.


Den Menschen, die denen ähnlich sind, denen schauen wir zur Sicherheit gleich auch nicht in die Augen. Die könnten ja auch unangenehm werden. So funktioniert unsere ganze Gefühlssteuerung. Ganz automatisch, innerhalb von Millisekunden und ohne, dass uns das bewusst wird.


Und da die Gefühle schneller sind, als die Gedanken, geht Objektivität ganz schnell verloren. So empfindet man ganz selbstverständlich die eigene subjektive Wirklichkeit schnell als objektiv. Und das Gegenüber, das die Situation anders empfindet, mit dem stimmt etwas nicht.


Dabei reagieren wir gar nicht auf die jetzige Wirklichkeit. Sondern unsere vergangenen Erfahrungen reagieren emotional auf die jetzige Situation. Je mehr Angst dabei in einer Situation ausgelöst wird, desto stärker wird die innere Realität und desto stärker muss ich die äußere Realität ausblenden.


Angstbesetzte Beziehungserfahrungen in der Vergangenheit bringen mich also in der Gegenwart aus dem Gleichgewicht. Ich ziehe mich in eine innere, subjektive Realität zurück und verliere den Kontakt zur objektiven Realität.


Was ist der Ansatz der Achtsamkeit, dieses Dilemma zu lösen?


Die achtsame Wahrnehmung


Die achtsame Wahrnehmung zielt darauf ab, sich ganz bewusst mit der objektiven Realität zu verbinden. Gleichzeitig werden die unbewussten emotionalen Vorgänge in die Bewusstheit gehoben. Achtsamkeit bildet einen Beobachter aus, dem sie eigene Wahrnehmung bewusst wird.


Gefühle und Körperreaktionen werden bewusst wahrgenommen. Gleichzeitig verankert sich die achtsame Wahrnehmung ganz stark in der objektiven, sinnlichen, jetzigen Erfahrungsebene und nimmt sie genauso bewusst wahr.


So komme ich in eine ganzheitliche Wahrnehmung, in der ich reflektieren kann, ob die aktivierte emotionale Reaktion der objektiven Situation angemessen ist. Ich bewege mich also aus der Reaktivität in die reflektierte Antwort auf eine Situation, in der ich beurteilen kann, ob alte emotionale Reaktionsmuster noch dienlich sind, oder mir im Weg stehen.


Durch die Kombination objektiver und subjektiver Wirklichkeit nutze ich die ganze Bandbreite meiner Wahrnehmung und bin dadurch bestmöglich mit mir selbst verbunden, ohne, dass ich mich durch alte Prägungen selbst sabotiere.


Diese achtsame Wahrnehmung führt so einfach zu weniger emotionalen Verwechslungen der Gegenwart mit der Vergangenheit. Und so stelle ich vielleicht fest, dass dieses kleine, hässliche, verschrumpelte Ding eigentlich eine ganz wohlschmeckende Rosine ist. Ich stelle fest, dass ich zeichnen kann, wenn ich es übe, dass Mathematik Spaß machen kann und dass ein paar Menschen, vor denen ich mich gefürchtet habe, ganz einfach wirklich nett sind, wenn ich mal den Mut habe, ihnen in die Augen zu schauen und mit ihnen zu reden.


Urteil und Wertung gegenüber anderen wird weniger. Denn ich erkenne, dass andere Menschen ganz einfach nur andere Erlebnisse hatten und daher anders auf Dinge reagieren.


Richtig und falsch lösen sich dann auf.


Es geht dann um Beziehung.


Sich gegenseitig zu verstehen, zu achten, mitfühlen zu können und anzuerkennen, dass jeder von uns in seiner ganz eigenen subjektiven Erfahrungswelt lebt.


Das ist die Kraft der achtsamen Wahrnehmung.

 

Übung:


Die Übung für diese Woche ist, mich neugierig dem ungewohnten zu öffnen. Neue Dinge in mein Leben einzuladen.


Mal einen anderen Weg zur Arbeit zu nehmen, als letzte Woche, mich in meiner Freizeit mit anderen Dingen zu beschäftigen und mich dabei damit zu verbinden, was ich in der Erfahrung, in diesem Augenblick tatsächlich fühle und wahrnehme.


Es ist gut, sich aus der eigenen Komfortzone hinaus zu bewegen.


Spannend wird es, wenn ich bewusst wahrnehme, was meine objektive und was meine subjektive Wahrnehmung der Situation ist. Oft sind sie gänzlich verschieden.


Dann habe ich die Möglichkeit zu wachsen und mich bewusst dafür zu entscheiden, was mir in diesem Moment meines Lebens guttut, statt dem zu folgen, was meine Vergangenheit behauptet, das mir guttut.


So entsteht persönliches Wachstum, sowohl emotional, wie auch in Bezug auf Lernerfahrungen. Unser Bewusstsein erweitert sich auf diese Weise. Es kann aus der Enge persönlicher Prägungen aussteigen und mit einem größeren Ausschnitt der Welt in Beziehung gehen.


Ich komme in eine größere Freiheit zu entscheiden.








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