Eine Freundin von mir, die auch Achtsamkeitslehrerin ist, hat ein Seminar mit dem Titel "Achtsamkeitsrituale" entwickelt. Diese Idee hat mir gefallen. Auch wenn ich nicht genau weiß, wie sie ihr Seminar gestaltet, hat mich der Titel dazu bewegt, diesen Blog Eintrag zu schreiben.
Die Bedeutung von Ritualen
Rituale markieren im Großen wichtige Übergänge in unserem Leben. Durch Rituale werden Übergänge erfahrbar und spürbar. Sie laden zur Selbstreflexion ein. Man hält inne und spürt intuitiv nach, wo man gerade steht.
Rituale gibt es aber auch im Kleinen. Oft strukturieren sie den Tag. Das tägliche gemeinsame Essen zum Beispiel, das einen Fixpunkt darstellt, zu dem sich alle sehen. Schon das Kochen kann ein Ritual sein, das man alleine oder zu zweit als etwas begreifen kann, was einen Übergang schafft von einem Teil des Tages in den anderen.
Es kann ein Ritual sein, das Meditationskissen und die dafür vorgesehene Unterlage an seinen Ort zu legen und sich zum Meditieren hinzusetzen. Oder auch sich morgens 5 Minuten zu nehmen, um einfach nur aus dem Fenster zu schauen und die Ruhe wahrzunehmen, bevor man in die Arbeit geht.
Rituale schaffen oft Pausen in einem Tag, der voller Aktivität und Tun ist. Und sie erfüllen oft ganz unauffällig einen Zweck. Sie lassen uns für ein paar Momente zu uns kommen - wenn wir so aufmerksam sind, sie so zu nutzen.
Sich selbst begegnen
Als ich angefangen habe diesen Beitrag zu schreiben, ist mir das Zitat von Flannery O'Connor eingefallen, das auch Inhalt der Zeichnung zu diesem Beitrag ist:
"I write because I don't know what I think until I read what I say."
Wir sind oft den ganzen Tag im Kopf - aber wie geht es uns? Was fühlen wir? Was geht in uns vor? Wenn das was wir "tun" mal eine Zeit ruhen darf, begegnen wir uns selbst und spüren uns wieder. Die unmittelbare jetzige Erfahrung wird wieder spürbar und in der Begegnung mit mir selbst tauchen Assoziationen, Bilder und Gefühle auf, von denen ich gar nicht weiß, dass sie mich emotional beschäftigen.
Was wir fühlen ist in der Regel unbewusst. Und es ist leiser als unsere Aktivitäten und unsere Gedanken.
So sind Achtsamkeitsrituale für mich persönlich Momente, in denen ich in mich selbst hinein lauschen kann. Ohne eine bestimmte Frage. Und im Lauschen taucht oft etwas auf, das Bedeutung hat. Emotionale Bedeutung. Etwas, was mir ganz persönlich wichtig ist. Ich kann mich mit meinem Herz verbinden und spüre, was mich berührt.
Ein Ritual ist etwas, das ich wiederhole
Ein Ritual bezieht einen Teil seiner Wirkung daraus, daß ich es wiederhole. Daß ich täglich oder wöchentlich oder monatlich in einer festen Form Platz nehme, die einem Zweck gewidmet ist. Die mir Ruhe und Sicherheit geben kann. Ein Ritual ist immer ein bisschen wie nach Hause kommen zu einem bekannten Gefühl, einer vertrauten Erfahrung und zu mir selbst.
Dabei kann ein Ritual ein täglicher Vorgang sein oder auch etwas, was ich nur selten mache.
Das jährliche Fasten vor Ostern kann so ein Ritual sein, das einmal im Jahr seinen Platz findet. In der zeit, in der die Natur wie tot wirkt, bevor sie im Frühling prächtig und lebendig austreibt.
Egal wie selten oder wie oft ein Ritual Teil meines Lebens wird - ein achtsames Ritual wird es für mich dann, wenn ich es bewusst begehe. Wenn ich Pausen und Übergänge im Leben bewusst und präsent nutze, in dem Wissen, daß ich mir in der Zeit selbst begegnen kann.
Jede Woche endet im Ritual des Sonntags. Einem Tag, an dem alles für alle ruht. An diesem Tag kann sich die Energie sammeln, die wir für die Woche brauchen, wenn wir den Sonntag in diesem Bewusstsein begehen.
Jeder Tag bietet Möglichkeiten für kleine Alltagsrituale.
Es kann ein schönes Ritual sein jede Stunde für eine Minute die Augen zu schließen. Oder eine Minute lang alles um mich herum ganz bewusst mit allen Sinnen wahrzunehmen. Ich kann mich jede Stunde bei der Arbeit kurz erheben um den Körper ganz bewusst strecken und zu dehnen. Jeden Tag um 15h00 kann ich mir für eine wirkliche Kaffeepause Zeit nehmen, in der ich sonst gar nichts mache als den Kaffee bewusst und langsam zu genießen.
Die Tätigkeit selber ist es nicht, die das Ritual achtsam macht, sondern die Haltung mich für Teile meines Tages ganz bewusst mit dem Sein zu verbinden. Mit mir selbst und dem was gerade da ist in Beziehung zu gehen.
Ein fixer Platz im Lauf des Tages
Rituale bekommen gerne einen fixen Platz im Lauf des Tages. So können sie zu Gewohnheiten werden. Das ist ihre geheime Stärke. Denn die Dinge, die wir gewohnt sind zu tun, die vergessen wir nicht. Sie werden ein Teil von uns.
Geben wir achtsamen Ritualen einen Platz in unserem Leben, vergessen wir uns und unsere Beziehungen nicht mehr so leicht in der täglichen Hektik. Ohne achtsame Rituale merken wir oft erst im Urlaub, wie es uns eigentlich geht, und dass wir uns vielleicht verloren hatten in der Betriebsamkeit des Alltags.
Wenn Achtsamkeitsrituale dazu dienen können, dass wir spüren wie es uns geht und was wir fühlen, dann erfüllen sie einen wertvollen Zweck.
In Beziehung gehen
Achtsam leben ist für mich immer ein Synonym für die Kunst gut in Beziehung zu gehen. So gibt es für mich auch Achtsamkeitsrituale, die ich ganz bewusst nutze, um nicht nur mit mir selber, sondern auch mit anderen gut in Beziehung zu sein.
Jeder Donnerstag Abend gehört meiner Frau und mir. Wir widmen den Abend einer ganz einfachen und wichtigen Frage. "Wie geht es dir eigentlich?" Dann hören wir lange zu und versuchen zu verstehen.
Jedes Wochenende telefoniere ich mit meiner Mutter und wir wissen, daß wir uns auf dieses Ritual freuen können.
Der Stammtisch war ein großartiges Ritual der Gemeinschaft und Freundschaft, das leider kaum noch existiert.
Es gibt keine größere Ressource als gelungene Beziehungen. Achtsam und bewusst rituelle Räume zu schaffen, in denen Beziehung gelebt wird, sorgt dafür, daß sie uns nicht versehentlich abhanden kommt.
Klassische Achtsamkeitsrituale
Dann gibt es noch die klassischen Achtsamkeitsrituale. In der Kirche eine Kerze anzünden und sich einen Moment der Stille nehmen. Die japanische Teezeremonie, oder lange Pilgerwanderungen, die in den letzten Jahren wieder populär geworden sind, weil sie ein tiefes menschliches Bedürfnis nach Orientierung in sich selbst befriedigen. Oft werden solche Pilgerwanderungen dort gemacht, wo das Leben Brüche hat, wo etwas Altes zerbricht und das Neue noch nicht geboren ist.
Diese Rituale haben Bedeutung und sie bekommen wieder Bedeutung, wenn wir sie ihnen geben.
Für mich persönlich ist dieses Blog ein Achtsamkeitsritual. Jede Woche setze ich mich vor den Computer und schaue, was für ein Thema in mir auftaucht. Oft ist es nur ein Gedanke und ich habe keine Ahnung was ich schreiben werde. Und dann geht es mir wie Flannery O'Connor. Dann entdecke ich während des Rituals des Schreibens, was zu diesem Thema aus mir auftaucht. Ist der Beitrag fertig geschrieben, habe ich immer etwas gelernt von mir selbst.
"I write because I don't know what I think until I read what I say."
Übung
Welche Rituale gibt es in deinem Leben? Wie kannst du sie bewusst und achtsam erleben, um dich selbst zu spüren?
Wo gehst du leicht im Alltag unter, weil fehlende Rituale den Tag nicht strukturieren und dir so die Möglichkeit nicht geben, dich zu sammeln und zu dir zu kommen?
Wo braucht es in deinem Leben neue Rituale, um Dinge, die dir wichtig sind spürbar und bewusst zu erleben?
Wenn es dir gelingt, die Rituale zu finden, die für dich ganz persönlich Bedeutung haben, dann sind sie wie Freunde in deinem Leben, auf die du dich verlassen kannst.
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